9.11.2021

Es war in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als sich SA-Männer aus Geldern Zugang zur Synagoge am Nordwall verschafften und sie in Brand steckten. Wie die Synagogen vieler anderer Städte, brannte auch das Gebäude in Geldern nieder.

Im weiteren Verlauf wurden 6 Millionen Juden ermordet. Alles Leid kann ich nicht benennen.

Die Progromnacht war ein singuläres Ereignis, noch nie da gewesen, aber es war der Beginn eines industrialisierten Massenmordes, der auch an Geldern nicht vorbei ging.

Seit 1933 war der Antisemitismus an der Macht. Die neuen politischen Rahmenbedingungen ermöglichten vielen Deutschen das Ausleben lange gehegter Ressentiments, das Ausleben von Hass und Gewalt. Es blieb nicht bei der Zerstörung jüdischer Gotteshäuser, Geschäfte und Existenzen.

Wir Menschen neigen dazu, die Erinnerung ausschließlich auf das Ereignis zu konzentrieren, und übersehen zu leicht, dass es nicht für sich steht, sondern Teil eines Prozesses ist. Auch der 9. November stand nicht für sich, der Pogromnacht am 9. November 1938 ging auch etwas voraus, ohne dass sie nicht möglich gewesen wäre. Das Unheil des Nationalsozialismus kam nicht über Nacht, sondern wuchs stetig heran.

Ich bin davon überzeugt, dass wir nur dann die richtigen Lehren für uns heute ziehen, wenn wir die Novemberpogrome 1938 als Teil eines Prozesses verstehen, dem mit der Shoa ein schreckliches Danach folgte, dem aber eben auch ein Davor vorausging.

Wenn wir heute schauen, es gibt in Deutschland wieder blühendes jüdisches Leben (gestern die Grundsteinlegung der neuen Synagoge in Potsdam) – ein unerwartetes Geschenk nach den Ereignissen vor 83 Jahren. Doch zugleich erleben wir einen besorgniserregenden Antisemitismus, der jüdisches Leben in unserem Land bedroht. Stehen wir wieder mitten in einem Prozess, dem ein DANACH folgt? Ist Geldern eine Insel der Seligen, oder brodelt es schon, ohne dass wir es merken?

Wir erschrecken uns über Angriffe auf Menschen, die eine Kippa tragen, und stehen fassungslos vor den rechtsradikalen Angriffen auf jüdische Einrichtungen.

Doch unser Erschrecken und unsere Fassungslosigkeit reichen nicht aus. Wir müssen vor unserer eigenen Tür kehren, hier in Geldern. Aber bevor wir einen Besen schwingen, müssen wir uns ansehen, wo der Unrat blüht.

Jedem Ereignis geht ein Prozess voraus geht. Stecken wir schon drin?

Wie schauen zukünftige Generationen heute auf uns, als Gesellschaft?

Wird sie sagen können: Die Menschen haben aus der Shoa gelernt?

Oder wird sie ehrlich Bestand nehmen und feststellen, Hass und Hetze nahmen schon wenige Jahrzehnte nach dem Ungeheuer der Massenvernichtung wieder zu?

Wer anders aussieht, wer anders glaubt, wer anders liebt, der ist sich seines Lebens nicht uneingeschränkt sicher.

Ist es das, was man über uns sagen wird?

So wie sich das Unheil des Nationalsozialismus nicht über Nacht heranschlich, sondern Tag für Tag. So sehe ich auch heute wieder Menschen, die gegen das Leben, die gegen die Freiheit, die gegen andere Menschen auf die Straße gehen, oder aber die im Anzug und mit Krawatte im Parlament gegen die Menschen pöbeln, die anders glauben, anders lieben, anders leben. Menschen, die sich auf alte deutsche Werte berufen, dabei gar keine Werte kennen.

Im Grundgesetzt heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das muss unbedingt die Richtschnur unseres Handelns sein; und zwar sowohl politisch als Richtschnur für das Handeln jeder Einzelnen und jedes Einzelnen.

Jeder Mensch ist einzigartig. Niemals dürfen Gruppen pauschal qualifiziert und unsere Gesellschaft in „Wir“ und „Ihr“, „Wir“ und „die Anderen“ unterteilt werden. Jeder hat das Recht und den Anspruch, als Individuum wahrgenommen und behandelt zu werden.

Der Erinnerungsarbeit kommt eine grundsätzliche Bedeutung zu.

An Tagen wie heute innezuhalten und uns gemeinsam zu erinnern, ist deshalb wichtig. Wir schauen auf das DAMALS und wir schauen auf das HEUTE, um Signale eines Prozesses, der ins Unheil führt, nicht zu übersehen.

Nur so, können wir einen Prozess aufhalten.

Sprachlos vor den 6 Millionen Toten wollen wir ab jetzt schweigen.

Alle drei Minuten wird eine neue Kerze angezündet. Es sind schmerzhafte Erinnerungen.

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